gastrotel weekly | 30.07.2020

Nelsons Sterne-Fliewatüüt

Fotostrecke Nelson Müller Mario Andreya Nelson Müller / Foto: Mario Andreya

Ein Imbiss, ein Bistro und ein Gourmetrestaurant unter einem Dach – nebenan ist eine Drogerie, im Souterrain ein großer Supermarkt. Er fahre halt ein gastronomisches Amphibienfahrzeug, scherzt Nelson Müller. Kann das gut gehen? Von Peter Erik Hillenbach

„Wir hatten ehrlich gesagt ein bisschen Bammel vor der Sternvergabe“, erinnert sich der TV-bekannte Sternekoch Nelson Müller an die Zeit Ende Februar. Doch dann honorierte der Guide Michelin exakt das, was Müller als Konzept vorgeschwebt hatte und was für eine Sterne-Adresse in Deutschland sicher höchst ungewöhnlich ist. Denn die besternte Schote residiert ja seit einem Jahr nicht mehr im kuscheligen Essen-Rüttenscheider Wohnviertel, wo sie einen exotischen Akzent im Gründerzeit- Kiez setzte, sondern ist an den Standort von Müllers zweiter Location gezogen. Und der hat es in sich: Müllers auf der Rü, Nelsons bodenständiges Imbiss- und Bistrokonzept, liegt direkt an der vielbefahrenen Kreuzung „Rüttenscheider Stern“ am Kopf einer Rolltreppe, die hinunter zu einem Edeka führt, und neben einem Drogeriemarkt. Logisch, dass das Bistro hier super funktionierte, zentraler und urbaner kann man als Gast kaum draußen beim Schaumwein sitzen und das alte Spiel vom Sehen und Gesehen-Werden spielen. Und der Imbiss reichte derweil Hausmannskost, Currywurst, Frikadellen und halbe Hähnchen an die Laufkundschaft.

Offenes Konzept liegt im Zeitgeist

Sechs Jahre gibt es das Müllers auf der Rüttenscheider Straße in diesem Jahr. Müller erinnert sich: „Die Idee war, mit diesem Standort auf die Gegebenheiten der großen Straßenkreuzung und die Nachbarschaft zu einem großen Supermarkt zu reagieren. Wir wollten eine Art Markthalle schaffen, eine Mini-Mall mit einer zentralen Kochinsel wie auf einer Gourmetmeile.“ Selbstkritisch merkt der Sternekoch aber auch an: „Wir wurden geradezu überrannt, verzichteten jedoch auf eine Beschränkung der Personenzahl. Das war sicher ein Anfangsfehler. Das Niveau litt, unser eigener Anspruch litt.“ Zumal Müller eine Zeit lang auf zu vielen Hochzeiten tanzte: Er betrieb das Sternerestaurant Schote, das Imbiss-Bistro auf der Rü, die Kochschule Food & Flavour, hatte das Catering der riesigen Essener Philharmonie übernommen, bekochte die Vorstandskantine eines Düsseldorfer Top-Industrieunternehmens und war bekannter TV-Koch. Heute weiß Nelson: „Das war zeitweise too much. Ich bin froh, dass mir mein Ego nicht im Weg stand“ – nämlich beim Weg aus dem Zuviel. Sein Team, auch heute mit 25 Leuten nicht gerade klein, zählte zu Spitzenzeiten 120 Mitarbeiter. Der Ausweg lag in der simplen Erkenntnis: „Es war ein Missverständnis, dass Wertschöpfung in der gastronomischen Expansion liegt. Ich hatte nicht bedacht, dass meine Arbeit für Fernsehen und Medien ja bereits Wertschöpfung genug ist.“

Und so fügte sich alles zum heutigen Stand der Dinge: Müller gab bis auf TV und Kochschule seine Nebenbeschäftigungen auf und zog mit der Schote ins quirlige Bistro. An einem Standort gibt es nun Straßenverkauf, Bistrofeeling an Hochtischen und Tresenplätzen sowie die elegante Schote mit ihrer auf klassisch französischer Küche beruhenden Karte. „Der Zeitgeist hatte sich eh in Richtung offenes Konzept gedreht, und so betreibe ich heute ein Hybridrestaurant: Mein gastronomisches Amphibienfahrzeug fährt zu Land und zu Wasser.“ Ein Konzept, das der Michelin vor einigen Jahren nicht honoriert hätte, das aber heute von Gästen und Testern gleichermaßen goutiert wird.

Genussboxen gegen Corona

Der Stern war im März nicht einmal haptisch überreicht worden, als Corona kam. „In der Krise hat uns der Imbiss den Allerwertesten gerettet“, sagt Nelson im Rückblick. Zu einem weiteren Rettungsanker wurden die Genussboxen – die Schote verkaufte davon in anderthalb Monaten 1.000 Stück! Die Kunden bekamen die Kiste deutschlandweit per Otto Gourmet nach Hause geschickt, der Inhalt: „Convenience“, handgemacht von Müllers Köchen. Zum Muttertag gingen 300 Boxen raus, zum Vatertag 200, es gab Grillboxen sowie Pakete zu Ostern und Pfingsten. „Eine Zeit, in der eine Ambivalenz die nächste jagt“, resümiert Nelson – und das Team war derweil gut beschäftigt mit Vakuumieren und Verpacken. Die Boxen blieben: Im Juli bot Müller die Box „Glücksmomente – Urlaubs-Feeling“ für immerhin 79,90 Euro für zwei Personen an, Weine extra. Das zitierte Team des Deutsch-Ghanaers übrigens ist ein Hingucker. Im einheitlichen Outfit arbeiten im Dreifachkonzept am Rüttenscheider Stern neben einigen Deutschen ein Franzose, ein Neuseeländer, ein Italiener, ein Russe, ein Kanadier, eine Kenianerin und eine Halbgriechin – angeführt von Katrin Lohmann, die man aus Berthold Bühlers Kettwiger Résidence kennt, in der ja auch ein Nelson seinerzeit kochte. Küchenchef der Schote ist der Franzose Christofer Kokoszka, der in Pariser Bäckereien und in der Lyoner Patisserie lernte. Den Sommeliersposten hat der junge David Baumann im Frühjahr vom weitgereisten Tausendsassa Justin Leone übernommen. Der gebürtige Kanadier Leone wirkte bei Dreisterner Grant Achatz in Chicago, dann im Münchner Tantris, und ist für maßgeschneiderte Anzüge, Rock’n’Roll-Expertise und sein unterhaltsames Weinfachbuch „Just Wine. Weinwissen ohne Bullshit“ bekannt. In der Schote ist er Berater und Sommelier-at-large. Bei unserem Besuch trug der Quereinsteiger und Kontrabassist einen Gürtel aus Pythonleder – dies nur, um Spirit und Style der Schote ein wenig einzuordnen. Die ja selbst eine Schönheit ist, dezent elegant, mit Möbeln von Vitra, mit grünem Stoff bespannten Wänden und auffälligen hyperrealistischen Bildern von David Uessem. Sexy und souverän wie Setting und Protagonisten präsentierte sich auch der Reigen an Gerichten aus dem aktuellen Menü sowie erstklassig ausgesuchten Weinen, den Nelson Müller Ende Mai einer kleinen Fachjournalistengruppe aus der Region auftischt. Er serviert teilweise persönlich, gießt Sauce an und spricht vom „Spaß, den man sich erhalten muss“, statt Großunternehmer zu sein und sich selbst zu verbrennen.

Fine Dining, neu erfunden

Spaß macht das Menü in der Tat: Küchenchef Chris Kokoszka spielt gern und setzt etwa eine kleine Kaninchenfrikadelle auf Alblinsen neben Terrine und Essenz vom Kaninchen und Gänseleber. Oder kommentiert den Brexit mit Fish’n’Chips: Sautierer Steinbutt, Yuzu-Béchamel, Pommes soufflées, Kapern, Ei, Pickles. Die Crépinette vom Stubenküken mit Erdnussjus und Crusta Nova Garnele vermittelt ein bisschen Ghana- Heimatküche; später folgt Knusper-Taco- Streetfood mit Avocado. „Fine Dining muss sich neu erfinden, neue Geschichten erzählen“, denkt Nelson zwischendurch laut nach und schwärmt von einem „politischen“ 50-Gänge-Menü, das er einmal mit namhaften Kochkollegen im Kopenhagener Avantgarde-Restaurant Alchemist genoss: „Das war nachhaltig, gegen Rassismus und Massentierhaltung, das Dessert etwa saugte man aus dem Euter. Out of the Box-Denken bringt uns weiter.“ Ebenso wie das Netzwerken mit Kollegen, gern im Ruhrgebiet, wo er seit 2001 arbeitet und seit 2006 selbstständig ist. „Ich habe mich entschlossen, für die nächsten zehn Jahre in Essen zu bleiben. Ich habe hier ein freiheitliches Gefühl und kann ganz verschiedene Stimmungen in unmittelbarer Nähe, etwa in Düsseldorf oder Köln erleben.“ Was ihn nicht hindert – ganz frisch und nach unserem Besuch – ein weiteres legeres Bistrokonzept zu eröffnen, nämlich „Müllers auf der Burg“. Ausgerechnet auf Burg Schwarzenstein im Rheingau – wo Kollege Nils Henkel gerade im März unrühmlich geschasst wurde.

www.das-muellers.de

www.nelson-mueller.de

www.restaurant-schote.de

 


PROFILE

Sternekoch Nelson Müller fährt in Essen ein Dreifachkonzept. 

Vor einem Jahr zog er mit dem Sternerestaurant Schote um. Nun befinden sich Imbiss mit Straßenverkauf, Bistro und Sternelokal unter einem Dach.

Standort: an einer belebten Kreuzung im Essener Stadtteil Rüttenscheid, eine Rolltreppe führt an der Location vorbei in einen Edeka im Souterrain. 

Kochschule und TV-Shows. 

Seit Mitte Juni gibt es das Bistrokonzept „Müllers“ auch auf Burg Schwarzenstein. 


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